Der folgende Text, ist von Giovanni Sartori
und ist mit unserer Meinungen identisch. 22.02.2017 

Überbevölkerung und Entwicklung


Die von Giovanni Sartori entworfenen Szenarien der Bevölkerungsentwicklung sind nicht neu - die Zahlen sind längst bekannt und offiziell, werden sie doch regelmässig von der UNO veröffentlicht - mit jeweiligen Varianten nach oben und nach unten. So wurde die seit einiger Zeit am meisten genannte Zahl der Erdenbürger im Jahr 2050 - nämlich 9,3 Milliarden Menschen - in den vergangenen Tagen erfreulicherweise nach unten korrigiert: So sollen um die Jahrhundertmitte nicht mehr 9,3, sondern «nur» 8,9 Milliarden Menschen die Erde bevölkern. “Schuld” daran wird die Aids-Epidemie sein …

8,9 Milliarden Menschen sind aber immerhin ca. 3 Milliarden mehr als heute: Trotz Aids - oder muss man zynisch “dank” Aids sagen? - wird sich also die Erdbevölkerung doch um ca. 50% erhöhen.

Von offizieller Seite - also von der UNO, aber auch von praktisch allen Regierungen der Welt - werden diese eigentlich erschreckenden Zahlen mit Schweigen zur Kenntnis genommen. Man gewinnt den Eindruck, dass diese Entwicklung als durchaus natürlich und unausweichlich zu betrachten sei (wenn nicht sogar wünschenswert: denn wer soll sonst die Pensionen für die Alten zahlen?). Irgendwann - heisst es - wird sich dann die Zahl der Gesamtbevölkerung stabilisieren: je nach Modell oder Berechnung auf 9 oder 11 Milliarden (unter Umständen aber auch bei 14 Milliarden).

Da sich praktisch kein Regierungschef grosse Gedanken darüber macht, muss man annehmen, dass der demographische Wahnsinn für sie - zumindest zur Zeit - kein Problem darstellt. Für sie haben ganz andere Dinge Priorität: Ökonomisches Wachstum, Beschäftigung, Gesundheitskosten, Pensionskassen, Kinderkrippen, Familienzulagen usw. Schliesslich geht es auch oder vor allem um einen Sieg bei den nächsten Wahlen.

Giovanni Sartori ist da ganz anderer Ansicht. Für sie ist die demographische Entwicklung eine einzige Katastrophe: Auch die heute als wahrscheinlichere und tiefere Variante mit 9,3 Milliarden (oder neuestens 8,9 Mrd.) Menschen wird für das “System Erde” ganz schlicht und einfach das Ende bedeuten. Denn die heutigen Milliarden sind schon zuviel.

Lasst jede Hoffnung fahren …

Das Buch ist zweigeteilt. Der erste Teil umfasst die vom Politologen Sartori seit zwei Jahren im “Corriere della sera” veröffentlichten Leitartikel über die Bevölkerungsexplosion - mit Korrekturen und Erweiterungen. Was er über den Hunger denkt, kann man hier lesen (siehe Link). Sartori ist einer der ganz wenigen “Mahner in der Wüste”, die sich sehr kritisch mit dem Argument befassen und eindringlich zu einer Rückkehr zur Vernunft aufrufen. Ein Lob gehört sicher auch der grössten Zeitung Italiens, die regelmässig und auf der ersten Seite Sartori das Wort gibt. Wir haben schon von Sartori gehört, dass das Argument “Bevölkerung” bzw. “Bevölkerungsexplosion” direkt Tabu sind. Sogar die Globalisierungsgegner, die gegen alles und jedes sind, fassen dieses heisse Eisen kaum an: Schuld an der ganzen Misere in der Welt, vor allem an Armut und Hunger, soll nach ihnen der Kapitalismus und die Ausbeutung der dritten Welt durch die erste sein: Ausbeutung, die durch die sog. Globalisierung sich sogar verstärkt und beschleunigt. Dass eventuell auch die wachsende Zahl Menschen jeden Fortschritt zunichte macht, will offenbar nicht in ihre Köpfchen.

Die Gründe für diese Tabuisierung sind offenbar auch kultureller Natur. Mann kann sich in der Tat kaum vorstellen, dass irgend eine Regierung im Westen eine optimale Kinderzahl pro Familie vorschreiben oder sogar aufzwingen könnte. Die freie Wahl der Kinderzahl ist so etwas wie ein fundamentales Menschenrecht. Der Wunsch nach einer Zwei- oder höchstens Dreikinderfamilie müsste sich irgendwie spontan ergeben: Durch Nachahmung und auch durch Aufklärung (z. B. über die Belastung der Umwelt, die eine überbordende Anzahl Individuen notwendigerweise verursacht: Mehr Konsum, mehr Güter, Abfallbeseitigung, Überbeanspruchung des Territoriums  - wegen Verringerung der Grün- und Waldfläche, Entstehung von Riesenstädten, Versiegelung des Bodens durch Strassen und Siedlugen, Versiegen der Wasserquellen usw.).

Die Stabilisierung - allerdings auf hohem Niveau (9 bis 14 Milliarden Individuen) - soll sich langsam und mit der Zeit ergeben, sozusagen natürlich und ohne Zwang, vor allem dank der Bildung und Emanzipation der Frau und der Beseitigung der Armut: Mit wachsendem Wohlstand reduziert sich offenbar automatisch der Wunsch nach einer grossen Kinderschar. Eine Entwicklung, die eigentlich im Westen schon seit Jahrzehnten eingesetzt und sogar das Problem der Überalterung unserer Gesellschaften heraufbeschwört hat (dieses Problem wird allerdings stark überbewertet bzw. nicht in allen Implikationen betrachtet: So wird von einigen Schweizer Rassisten die Rekrutierung von “Sklaven” im Ausland gefordert, die unsere Altersrenten sichern sollen…).

Wir stehen also vor einem Paradox: Die erste Welt, die auch über mehr Güter und technische Mittel verfügt und sich eines gewissen Wohlstandes freut (man darf aber auch nicht vergessen, dass es z. B. in Europa Millionen Arbeitslose gibt), hat eigentlich schon längst das Bevölkerungswachstum zum Stillstand gebracht - ohne Zwangsmassnahmen (in einigen Ländern - etwa in Russland - ist Bevölkerungsentwicklung sogar rückläufig). Auf der anderen Seite haben wir eine unterentwickelte Welt, die in der grössten Armut und unter jämmerlichen Verhältnissen lebt und demographisch explodiert, Armut und Elend ständig vergrössernd.

Nach Giovanni Sartori ist es utopisch zu glauben und zu hoffen, dass die dritte Welt noch rechtzeitig den Weg der Vernunft einschlagen wird. Denn die Zeit drängt. Die Stabilisierung auf hohem Niveau (9 und mehr Milliarden) ist nicht nur kaum wünschenswert, sondern wird der sich bereits jetzt am Rande des ökologischen Kollapses befindende Erde den Todesstoss versetzen. Auch glaubt er nicht, dass das Wachstum irgendwann und auf natürliche Art aufhören wird. Man müsste vielmehr gleich jetzt etwas unternehmen.

Gibt es noch einen Ausweg aus der Falle?

Die katholische Kirche - gegen die Sartori dauernd polemisiert - hat zwei Rezepte: Ogino-Knaus- und Billingsmethode oder gänzliche Enthaltsamkeit zur Empfängnisverhütung und Erhöhung der Lebensmittelproduktion, um die wachsende Anzahl Menschen zu ernähren.

Die von der Kirche als einzig natürliche und gottgefällige Methoden der Empfängnisverhütung sind alles andere als natürlich und sicher. Auch völlige Enthaltsamkeit ist nicht natürlich (wenn auch sicher). Die katholische Kirche ist die Gefangene ihrer Dogmen. Die Ausübung der Sexualität soll immer noch vor allem der Fortpflanzung dienen. Erst in diesem Jahrhundert hat die Kirche die Sexualität als ein positives Gut an sich anerkannt: Sie darf aber weiterhin nur in der Ehe und in einer bestimmten Form praktiziert werden, die eine Empfängnis niemals ganz ausschliessen darf. So wird sogar die Benützung des Kondoms in der Ehe verboten, selbst wenn ein Partner an Aids erkrankt ist. Nach der Kirche und nach Gottes Wille haben die aidsgefährdeten Eheleute folgende Alternative: Entweder sich völlig des Verkehrs enthalten oder dann ohne Kondom Geschlechtsverkehr haben und somit die Aids-Gefahr in Kauf nehmen. Dabei besteht auch die Gefahr der Übertragung des Virus auf das Neugeborene.

Was die Lebensmittelproduktion anbelangt, da müssten gewaltige Summen für den Zweck gefunden werden. Diese kann nur der reiche Norden zur Verfügung stellen. Im Norden müssten die Steuern verdoppelt oder verdreifacht werden, was das Produktionssystem auf den Kopf stellen würde - mit unabsehbaren Folgen. Natürlich wünscht niemand, dass irgend jemand in der Welt leidet und hungert. Wenn aber die weltweite Beseitigung des Hungers und der Armut  das Ziel sein soll, dem alles untergeordnet sein muss, dann braucht es wirklich nicht bloss einen Sinneswandel, sondern eine wahre Revolution. Noch eine?

Nach Sartori wird uns also nicht Ogino-Knaus oder die Erhöhung der Lebensmittelproduktion vor dem Kollaps retten, sondern eine Bevölkerungspolitik, die sich der Grenzen des Wachstums bewusst wird und die erforderlichen Massnahmen ergreift - und zwar heute noch, nicht erst im Jahre 2050. Konkret heisst das: die Verhütung mit allen Mitteln fördern. Das würde nebenbei auch das Problem der Abtreibung entschärfen, die auch für viele Nichtgläubige problematisch und ethisch nicht annehmbar ist.

Die katholische Kirche, die soviel Macht noch besitzt, vor allem in Afrika, kann natürlich die Sexualität nicht freigeben, ohne sich selber aufzugeben (so hat man den Eindruck). Mit ihrer Opposition zur Geburtenkontrolle wird man also weiter rechnen müssen.

Düstere Perspektiven

Im zweiten Teil des Buches liefert der Koautor Gianni Mazzoleni die Hintergrundinformationen und die Zahlen zu den Thesen Sartoris. Es beschleicht einen das nackte Grauen. Angesichts der bereits heute riesigen und kaum zu bewältigenden Probleme möchte man verzweifelt ausrufen: Lasst jede Hoffnung fahren … Allein das Problem der Trinkwasserversorgung ist heute kaum lösbar: Zwei Milliarden Menschen haben nicht Zugang zu sauberem oder genügendem Wasser, und die Situation wird sich dramatisch verschärfen. Was die Bevölkerungszahlen anbelangt, so wird Indien um 2050 1,5 Milliarden Menschen zählen (2003: 1 Mrd.), China 1,476 (2003: 1,2 Mrd.); die Bevölkerung Irans wird grösser sein als die stagnierende Russlands. Afrika, das heute ca. 800 Mio. Menschen zählt, wird dann 2 Milliarden ernähren müssen. Infolge der sich klimatisch verschlechternden Bedingungen - Desertifikation, Erhöhung des Meeresspiegels und Verlust von Küstengebieten, Überschwemmungen usw. - gibt es heute bereits Millionen Klimaflüchtlinge. Deren Zahl wird drastisch zunehmen. Sie werden in andere Regionen der Welt auswandern, auch nach Westeuropa, dieser kleinen Halbinsel des asiatischen Kontinents. Nichts und niemand wird diese Massen aufhalten können: Selbst wenn man einen Riesenwall im Mittelmeer errichten würde, werden aus Afrika und von überall her verzweifelte Menschen versuchen, nach Europa zu kommen…

Übrigens: Als der Bericht des Club of Rome, “Grenzen des Wachstums”, 1972 erschien, lebten auf dieser Erde 3,7 Mrd. Menschen. Zirka 30 Jahre später hat sich diese Zahl auf 6 erhöht. In knapp drei Jahrzehnten ist also die Erdbevölkerung um 2,3 Mrd. gewachsen ist. Das sind mehr Menschen, als es am Anfang des 20. Jh. lebten. Um 1900 zählte ja die Erde 1,9 Mrd. Menschen. Zur Zeit Julius Cäsar war die Erde von etwa 300 Mio. bewohnt …

Dennoch ist Giovanni Sartori kein verzweifelter Mensch: Den rüstigen 79-jährige verlässt der Humor nicht und er gibt nicht auf. Er kämpft weiterhin für Mass und Vernunft -intelligent, subtil, mit Ironie und ohne Sarkasmus.

Ja, wir können und dürfen das Prinzip Hoffnung nicht aufgeben.